Wer braucht schon ein Kreuz?
In unserer Kapelle im Internistischen Zentrum (INZ) stand lange Zeit an der Rückwand ein kleines Kreuz. Gerne zündeten Menschen ein Teelicht an und setzten sich davor. Eines Tages betrat ich wieder mal die Kapelle und merkte gleich: Irgendwas ist anders. Das Kreuz war weg! Ich konnte es erst nicht glauben, schaute überall nach. Aber nein, es stand auch nirgendwo anders. Der Platz war leer, verwaist. Ich war ratlos, sprachlos, und schwankte zwischen wütend und traurig: Wer, bitteschön, klaut ein Kreuz? Warum? War es der Materialwert? Oder brauchte es jemand so dringend, dass er (oder sie) es kurzerhand stehlen musste?
Jedes Mal, wenn ich die Kapelle betrat, fehlte mir etwas.
Und dann, vor kurzem, fühlte sich die Kapelle wieder anders an, vollständiger. Ich musste genau hinschauen, was sich verändert hatte. An dem Ort, wo vorher das Kreuz gestanden hatte, war nun ein Zettel: Nur ein paar Striche, handgemalt, aber eindeutig: ein Kreuz. Ganz einfach, und dabei so deutlich. Ganz persönlich. Ich war richtig angerührt, glücklich und dankbar. Und mir wurde bewusst, wie wichtig mir das Kreuz ist.
Es zeigt mir zum einen: Ich bin nicht allein. Es gibt außer mir noch mindestens einen anderen Menschen, der das Kreuz vermisst hat. Vielleicht, weil er - wie andere - empfindet, dass er selbst ein Kreuz zu tragen hat? Und vor allem erinnert es mich daran, dass Jesus sein Kreuz getragen hat. Gerade heute an Karfreitag wird das ganz deutlich. Er hat das Schlimme nicht vermieden: das Leiden, die Angst, das Sterben. Und so weiß er, wie es uns geht, wenn wir unser Kreuz tragen.
Vor dem Kreuz leuchtet schon eine Kerze, Symbol für das Licht von Ostern, das Licht der Auferstehung. Ich sehe das Licht und ich glaube, ich weiß: Alles was uns bedrängt, hat seine endgültige Macht verloren, selbst der Tod.
Das Licht von Ostern scheint auch auf unser Kreuz. Es verspricht uns in dunklen Zeiten:
Es wird wieder heller werden in meinem Leben.
Das Kreuz: Ein Hoffnungszeichen, dass Gott siegt. Dass das Leben siegt.
Braucht jemand das Kreuz?
Ja, ich brauche es.
Und ich sage dem unbekannten Menschen, der dieses Kreuz für die Kapelle malte,
„Danke“.
Ich wünsche Ihnen eine gesegnete Passions- und Osterzeit!
Herzliche Grüße,
Johannes Eunicke
Evangelische Seelsorge am Internistischen Zentrum