Zerbrochenes
Ich habe ja vieles vergessen, was ich als Kind alles gemacht habe. Aber an ein Weihnachten erinnere ich mich noch genau. Ich war vielleicht so 6 oder 7 Jahre. Morgens früh aufzustehen, das war da gar kein Problem um zu gucken, ob Papa die frischgeschlagene Tanne aus seinem Wald schon in den Ständer gezwängt und aufgestellt hatte. Mit seiner Unterstützung durfte ich den herrlich duftenden Baum klassisch festlich schmücken. In diesem Alter war ich ein Wirbelwind mit enormen Bewegungsdrang und jeder Menge Flausen im Kopf. Mein Vater ermahnte mich: „Bitte schwinge die Glaskugeln nicht übermütig durch die Luft!“ Für einen Moment wirkten diese Worte, doch sie waren schnell vergessen und so kam es, dass mein schwungvolles, fröhliches Schmücken ein abruptes Ende nahm, nämlich in dem Moment, als goldene Kugeln auf dem Boden landeten. Vater kehrte die Bruchstücke zusammen und kippte sie in den Müll.
Man kann mit Scherben jedoch auch anders umgehen.
In Krisen erleben wir Menschen, dass Dinge zu Bruch gehen. Träume, Erwartungen, Beziehungen, das Selbstbild – unter den Belastungen des Lebens können Körper und Seele Risse bekommen. Was, wenn das Leben oder andere Menschen Wunden schlagen, die uns aus der Bahn werfen und etwas in und an uns nachhaltig beschädigen? In der japanischen Kultur gibt es eine spezielle Kunstform, die Goldreparatur genannt wird. Dabei wird zu Bruch Gegangenes nicht weggeworfen. Und auch nicht einfach und möglichst unauffällig geklebt. Die Bruchstücke werden mit einem Lack zusammengefügt, der mit Echtgold ausgelegt ist. So bleiben die Bruchstellen sichtbar, aber sie nehmen dem Zerbrochenen nicht die Schönheit. Es ist nicht einfach das Ursprüngliche mit mehr oder weniger offensichtlichen Narben, es entsteht eine veredelte Version, die einzigartig und wertvoll ist.
„Das geknickte Rohr wird er nicht zerbrechen und den glimmenden Docht wird er nicht auslöschen.“ (Jesaja 42,3)
Für mich bedeutet dieser Vers: Gott wirft nicht weg, was zu Bruch gegangen ist, sondern sieht gnädig und mit Geduld auf die Beschädigungen und sorgt dafür, dass Neues werden kann. Krisenerprobte Menschen haben häufig eine Schönheit und Tiefe in sich, die ohne Bruchlinien des Lebens nicht entstanden wäre. Das Leben ist und bleibt verwundbar. Schönheit bedeutet für mich nicht Makellosigkeit, sondern entsteht im würdevollen, mutigen Umgang mit unseren Schwächen, Wunden und Schattenseiten. Ja, es erfordert Mut, sich mit dem Zerbrochenen auseinanderzusetzen und es nicht einfach zu entsorgen. Es benötigt Geduld, bis die Scherben wieder zusammengefügt sind. Und die Spuren bleiben sichtbar. Aber ich muss sie nicht verstecken. Denn sie sind wertvoll. Und sie machen mein Leben einzigartig.
Für mich bedeutet Gold in meinem Leben Vergebung, Versöhnung, Dankbarkeit, Mut, Barmherzigkeit, Aufbruch, Liebe …….
Was Gold in Ihrem persönlichen Leben bedeutet – vielleicht möchten Sie es ja in der vor Ihnen liegenden Weihnachtszeit herausfinden.
Wer sein Leben mit all den Wunden, Brüchen und Enttäuschungen nimmt und sie an die Krippe und unter das Kreuz legt, dem ist der Heiland geboren!
Andrea Rank
Ehrenamtliche Klinikseelsorgerin Unfallchirurgie