Oberleitung in Krisenzeiten
Während ich im trüben, nasskalten Novembergrau auf dem Bahnsteig so vor mich hin warte, schweift mein Blick über das hektische, bunte Treiben im St. Gallener Bahnhof. Einige Gleise entfernt steht eine rote Lok mit ihren angekuppelten Waggons nach Konstanz. Mein Blick bleibt an ihr hängen. Oben auf ihrem Dach hebt sich zügig ein Bügel empor. Er nimmt Kontakt mit der Oberleitung auf, es zischt und funkt heftig und das Bähnli fährt los, weil sie mit dem Stromnetz, der Kraftquelle, verbunden ist.
Corona, Krieg in der Ukraine und in Israel, Unwetterkatastrophen, haben uns in den zurückliegenden Monaten erheblich erschüttert, und die Folgen wirken sich bis heute auf uns aus. Viele fühlen sich angesichts dieser Krisen nahezu ohnmächtig. Aber auch im ganz normalen Alltag stellen sich Gefühle der Angst, Verzweiflung und Ausweglosigkeit immer wieder ein. Vergänglichkeit macht Angst. Drohende Arbeitslosigkeit, die Angst vor persönlichem Versagen, Krankheit und schwindende Kräfte lassen den Lebensmut sinken. Grenzen, die von außen gesteckt werden, und Grenzen, die wir selbst stecken. Es gibt auch Situationen, die uns unlösbar erscheinen, aber durch die wir durchmüssen. Grenzerfahrungen können uns helfen, anders zu denken und neue Lösungswege zu finden. Diese Grenzen sind Wachstumsknoten des Lebens. Es erfordert Mut, diese Grenzen zu sprengen und unbekanntes Terrain zu betreten. Denn genau dort, an den Knotenpunkten des Lebens, liegen die Möglichkeiten für persönliches Wachstum und Erfüllung.
In dieser dunklen Zeit sehnen sich viele nach Frieden, nach etwas, das sie trägt. Wenn ich diese Sehnsucht spüre, dann ist das, wie wenn ich Kontakt suche, mich nach oben ausstrecke. Ich hoffe auf eine Art Oberleitung, die ich anzapfen kann und die mir Kraft und Frieden gibt.
Wenn ihr mich sucht, werdet ihr mich finden, Jeremia 29,13.
Und dann ist da die Oberleitung, die Quelle der Kraft und des Lebens, der Gott, der sich über mein Leben beugt, um in meine Nähe zu kommen. Mal lässt er es funken, und mal gibt er mir einen Schub.
Wo wir das Geschenk in der Krippe von Bethlehem begreifen und ergreifen, bleibt Weihnachten kein Fest für Stunden, sondern macht uns fest an der Quelle des Lebens und der Liebe. Nicht ein bisschen Energie für ein kurzes Stottern des Lebensmotors. Nein, für mich ist das volle Kraftzufuhr, die für den ganzen Lebensweg reicht.
Mein Weihnachtswunsch: Machen Sie sich auf zur Krippe und schöpfen Sie aus der Kraftquelle ewiger Freude fürs ganze Leben.
Andrea Rank
Ehrenamtliche Klinikseelsorgerin Unfallchirurgie